Doctoral thesis

Sprachbiografien aus Romanischbünden : identitäre Selbstverortungen junger Erwachsener in Bezug auf ihre (Mehr-)Sprachigkeit

SPR

  • Freiburg, Schweiz, [2024]

1 Online-Ressource (409 Seiten)

Dissertation: Universität Freiburg (Schweiz), 2023

German In der vorliegenden Forschungsarbeit von Flurina Kaufmann-Henkel wird das individuelle Spracherleben junger Erwachsener aus Romanischbünden ins Zentrum gestellt. Im Kontext der peripheren Regionen Graubündens, die durch eine grosse sprachliche Vielfalt gekennzeichnet sind, wird der Frage nachgegangen, wie junge Menschen am Übergang ins Erwachsenenleben ihre (Mehr-)Sprachigkeit wahrnehmen und welche Bedeutung sie dabei dem Rätoromanischen zuschreiben. Die Daten wurden im Rahmen des vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten und von der Pädagogischen Hochschule Graubünden in Zusammenarbeit mit der Universität Freiburg/Schweiz realisierten Forschungsprojekts Passaggi linguistici: maiorens al spartavias. Sprachbiografien junger Erwachsener aus Romanisch- und Italienischbünden mittels narrativer Interviews und Sprachenportraits erhoben. Die daraus hervorgegangenen Sprachbiografien dienten einer qualitativ rekonstruktiven Analyse identitärer Selbstverortungen der jungen Erwachsenen in Bezug auf ihre (Mehr-)Sprachigkeit, wobei eingenommene Positionierungen und Spracheinstellungsäusserungen bezüglich des Rätoromanischen fokussiert wurden. Die Analyse der Erzählungen zeigt, dass die Jugendlichen, trotz des zunehmend dominant werdenden (Schweizer-)Deutschen, dem Rätoromanischen nach wie vor zugewandt sind, sei dies auf emotionaler wie auch auf kognitiver Ebene. Für die Sprachidentität der meisten Interviewten erweist sich das Rätoromanische als identifikationsstiftend, obwohl die jungen Erwachsenen auf einer funktionalen Ebene längst zwei- oder mehrsprachig sind. Auf individueller Ebene vermitteln die Sprachbiografien ein heterogenes und vielschichtiges Bild. Die jungen Erwachsenen betrachten das Rätoromanische aus unterschiedlichen Perspektiven und schreiben dieser Sprache vielerlei Bedeutungen zu. Häufig werden ihr gegenüber affektiv behaftete Einstellungen geäussert, sodass insgesamt auf eine hohe emotionale Verbundenheit der jungen Menschen mit der rätoromanischen Sprache und Kultur sowie mit dem Sprachgebiet, in welchem sie aufgewachsen sind, geschlossen werden kann. Obwohl sich die meisten Befragten darüber im Klaren sind, dass sie Rätoromanisch ausserhalb ihres eigenen Sprachgebiets kaum nutzen können, ist ihnen diese Sprache im Kontakt mit anderen romanischen Sprachen und teilweise auch im beruflichen Umfeld dienlich.
Als besonders bedeutsam in Bezug auf das individuelle Spracherleben werden bildungsinstitutionelle Übergänge wahrgenommen, da diese sowohl auf den Sprachgebrauch als auch auf die Spracheinstellungen der jungen Erwachsenen wirken. Der Übergang von der vorwiegend romanischsprachigen Primarschulstufe auf die mehrheitlich deutschsprachige Sekundarschulstufe stellt sich als neuralgischer Moment in Bezug auf das Spracherleben heraus. Erzählungen über diese Zeit zeugen davon, wie diese institutionell bedingte Transition als ‹schwierig› wahrgenommen wird.
Mit dem als abrupt empfundenen Sprachenwechsel werden sowohl Jugendliche aus romanischsprachigen als auch Jugendliche aus zwei- und mehrsprachigen Familien vor Herausforderungen gestellt. Die Rekonstruktionen der individuellen Bedeutungszuschreibungen in Bezug auf das Rätoromanische zeigen dann auch deutlich, wie sich die Bedeutung, welche dieser Sprache zugeschrieben wird, in Momenten des Übergangs verändern kann. Insbesondere für Jugendliche, die im familiären Umfeld selten Rätoromanisch sprechen, ist das Schulumfeld für die Entwicklung eines Zugehörigkeitsgefühls zur rätoromanischen Sprache und Sprachgruppe sowie für den Aufbau einer soliden Romanischkompetenz essenziell. Während der Kindergarten und die ersten Primarschuljahre zu einer positiven Entwicklung diesbezüglich beitragen, scheint der Wechsel auf die Oberstufe sowie an weiterführende Bildungsinstitutionen die Bedeutung, die dem Rätoromanischen zugeschrieben wird, zu mindern.
Aus den Erzählungen geht auch hervor, dass insbesondere Eltern, Lehrpersonen und Gleichaltrige für die Entwicklung der eigenen (Mehr-)Sprachigkeit relevant sind und dass der Sprachgebrauch, die individuellen Spracheinstellungen sowie die Verbundenheit mit einer Sprache durch sprachliche Erlebnisse mit bestimmten Personen beeinflusst werden.
Anhand von acht exemplarischen Fallanalysen wird deutlich, wie individuell, vielschichtig und situativ Sprachbiografien sein können. Der Fokus auf die autochthone Sprachgruppe Romanischbündens und die noch wenig beleuchtete individuelle Perspektive junger Erwachsener bringt Erkenntnisse darüber, welche Faktoren die (Sprach-)Identität beeinflussen. Dabei wird ersichtlich, dass das persönliche Umfeld einer Person, die besuchten Bildungsinstitutionen sowie die regional und überregional geführten Sprachdiskurse und Ideologien grosse Bedeutung für die Entwicklung und die Wahrnehmung der eigenen (Mehr-)Sprachigkeit haben.
Faculty
Faculté des lettres et des sciences humaines
Language
  • German
Classification
Social sciences
Notes
  • Literaturverzeichnis
License
CC BY
Open access status
gold
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