Peereinfluss und Autismus-Spektrum-Störung : wird autistisches Verhalten durch die Peers beeinflusst?
SPR
1 Online-Ressource (190 Seiten)
Dissertation: Universität Freiburg (Schweiz), 2023
German
Die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) zeichnet sich durch anhaltende Defizite in der sozialen Kommunikation und Interaktion und durch eingeschränkte, repetitive Verhaltensmuster, Interessen oder Aktivitäten aus (American Psychiatric Association, 2015). Obwohl eine ASS-Diagnose in den meisten Fällen ein Leben lang bestehen bleibt (Woolfenden et al., 2012), kann sich die Ausprägung autistischer Verhaltensweisen im Laufe der Zeit verändern (American Psychiatric Association, 2015; Seltzer et al., 2004). Dabei spielen sowohl individuelle Merkmale einer Person mit ASS als auch kontextuelle Faktoren eine wichtige Rolle (McGovern & Sigman, 2005; Shattuck et al., 2007; Woodman et al., 2015). Im Vergleich zu individuellen Merkmalen haben kontextuelle Merkmale, die mit der Entwicklung autistischer Verhaltensweisen in Zusammenhang stehen, in der Forschung eher wenig Aufmerksamkeit erhalten (Seltzer et al., 2004; Simonoff et al., 2020; Woodman et al., 2015).
Ein kontextueller Faktor bei der Entwicklung autistischer Verhaltensweisen, der bisher kaum untersucht wurde, ist der Einfluss von Peers. Kinder und Jugendliche treffen in unterschiedlichen Kontexten auf ihre Peers (Kindermann, 2016). Im schulischen Kontext werden sowohl die Kameradinnen und Kameraden der eigenen Klasse als auch der ganzen Schule zu den Peers gezählt (Müller & Zurbriggen, 2016). Während die Forschung zeigt, dass die Peers von typisch entwickelten Kindern und Jugendlichen einen erheblichen Einfluss auf deren Verhaltensentwicklung haben (Brechwald & Prinstein, 2011; Brown et al., 2008), ist wenig darüber bekannt, inwiefern Kinder und Jugendliche mit ASS bzw. deren autistischen Verhaltensweisen von den Peers beeinflusst werden. Mehr Wissen dazu kann helfen, besser zu verstehen, welche Rolle kontextuelle Faktoren, wie das Verhalten der Peers, in der Entwicklung autistischer Verhaltensweisen einnehmen. Zudem können die gewonnenen Erkenntnisse Perspektiven für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit ASS in ihrem Peerkontext aufzeigen und neue Ansätze zur Entwicklung von schulischen Interventionen eröffnen. In der vorliegenden Arbeit wurde der Frage nachgegangen, ob autistisches Verhalten von Kindern und Jugendlichen mit ASS durch die Peers beeinflusst wird. Zudem wurde untersucht, welche individuellen Merkmale von Kindern und Jugendlichen mit ASS mit ihrer Peerbeeinflussbarkeit zusammenhängen. Dazu wurden Daten aus einer Querschnittstudie (Studie 1) und einer vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Längsschnittstudie (Studie 2; SNF-172773) verwendet.
Die Studie 1 wurde in einer Förderschule für Kinder und Jugendliche mit ASS durchgeführt. Im Rahmen von standardisierten Interviews gaben 22 Fachpersonen Auskunft über 23 Kinder und Jugendliche mit ASS und tiefen adaptiven Fähigkeiten (Alter M=9;96 Jahre; SD=3;50). Die Fachpersonen berichteten über die beobachtete Häufigkeit, mit der zwölf verschiedene autistische Verhaltensweisen einzelner Kinder und Jugendlicher während einer typischen Schulwoche von den Mitschülerinnen und Mitschülern beeinflusst wurden (0 = nie oder fast nie, 5 = an fünf Tagen einer typischen Schulwoche). Die Fachpersonen berichteten über alle zwölf untersuchten autistischen Verhaltensweisen hinweg im Durchschnitt von 0,75 Tagen (SD=0,59), an denen Peereinfluss auf autistisches Verhalten beobachtet wurde. Ein Friedman-Test zeigte signifikante Unterschiede in der beobachteten Peerbeeinflussbarkeit zwischen den zwölf autistischen Verhaltensweisen (p < .01). Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass autistische Verhaltens-weisen aus Sicht von Fachpersonen durch das Verhalten der Peers beeinflusst werden, wenn auch nicht sehr häufig und in unterschiedlichem Ausmass. In Studie 2 wurden Längsschnittdaten von 330 Schülerinnen und Schülern mit stark ausgeprägtem autistischem Verhalten und IB analysiert (Alter T1 M=10,17 Jahre, SD=3,74; weiblich=20.6 %), die eine Heilpädagogische Schule besuchten. Im Rahmen einer Fragebogenstudie berichteten Fachpersonen zu Beginn und am Ende eines Schuljahres über die sozialen Beziehungen, die Ausprägung des autistischen Verhaltens und die adaptiven Fähigkeiten der Kinder und Jugendlichen. Zum einen wurde die zukünftige individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens (T2) durch die Ausprägung autistischen Verhaltens unter den von den Kindern und Jugendlichen besonders gemochten Peers vorhergesagt, wobei für die individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens zu T1 kontrolliert wurde (Kindermann & Gest, 2009; siehe Originalbeitrag 2). Zum anderen wurde die zukünftige individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens und sozialer Fähigkeiten (T2) durch die mittlere Ausprägung sozialer Fähigkeiten unter den Klassenkameradinnen und -kameraden vorhergesagt, wobei auch hier für die individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens bzw. sozialer Fähigkeiten zu T1 kontrolliert wurde (Kindermann & Gest, 2009; siehe Originalbeitrag 3).
Die Erkenntnisse aus der ersten Studie wurden durch die Ergebnisse der Studie 2 nur teilweise bestätigt. Die zukünftige individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens der untersuchten Kinder und Jugendlichen zu T2 wurde nicht durch die mittlere Ausprägung autistischen Verhaltens von den von ihnen besonders gemochten Peers zu T1 vorhergesagt, wenn für die individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens, das Geschlecht, das Alter und das allgemeine Funktionsniveau zu T2 kontrolliert wurde. Der Peereffekt wurde jedoch durch das Geschlecht moderiert, was darauf hindeutet, dass Mädchen mit stark ausgeprägtem autistischem Verhalten und IB, aber nicht Jungen, empfänglich sind für den Einfluss der Peers auf autistisches Verhalten (Originalbeitrag 2). Mehrebenenanalysen haben zudem ergeben, dass die individuelle Ausprägung autistischen Verhaltens und sozialer Fähigkeiten zu T2, unter Kontrolle der individuellen Ausprägung autistischen Verhaltens bzw. sozialer Fähigkeiten, des Geschlechts, des Alters und des allgemeinen Funktionsniveaus zu T1, nicht durch die mittlere Ausprägung sozialer Fähigkeiten auf Klassenebene zu T1 vorhergesagt wurde (Originalbeitrag 3). Die gewonnenen Erkenntnisse werden mit Blick auf das Verständnis der Entwicklung autistischer Verhaltensweisen im sozialen Umfeld diskutiert. Zudem werden Perspektiven für die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen mit ASS in ihrem Peer- bzw. Schulkontext abgeleitet.
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- Faculté des lettres et des sciences humaines
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Psychology
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