Doctoral thesis

Konceptualizacija temporal'nosti v poėtike Iosifa Brodskogo = Zeitkonzepte in der Poetik Iosif Brodskijs

SPR

  • Freiburg, Schweiz, 2023

1 Online-Ressource (208 Seiten)

Dissertation: Universität Freiburg (Schweiz), 2021

German Iosif Brodskij (Joseph Brodsky) ist wahrlich kein unbeschriebenes Blatt in der Forschung der neueren russischen Literatur. Brodskijs Freund Lev Losev sprach ironisch von der Produktion wissenschaftlicher und kritischer Texte in „industriellen Ausmaßen“. Es ist inzwischen keine Übertreibung, von einem eigenen Forschungsgebiet – „бродсковедение“ (der Brodskij-Forschung) – zu sprechen. Ausgiebig ist über Motive seiner Lyrik geschrieben worden, insbesondere über die Zeit – das selbst proklamierte Hauptthema Brodskijs: „In allen meinen Gedichten geht es um mehr oder weniger eine Sache: um die Zeit. Darüber, was die Zeit mit einem macht“, wie er in einem Interview sagte. Warum dann noch eine wissenschaftliche Untersuchung? Das Thema Zeit bei Brodskij war und bleibt durchaus im Blickfeld des philologischen Interesses. Es gehört zweifelsohne zu den vom Dichter selbst vorgegebenen Grundkomplexen seines Werks und wurde von der Forschung aktiv aufgenommen, vor allem auf motivischer Ebene. Zu offensichtlich war Brodskij mit dem Thema Zeit beschäftigt: Diese obsessive Beschäftigung verleitete viele Forschende dazu, die vom Dichter autorisierten Lektüremuster in Bezug auf die Zeitmotivik zu reproduzieren, statt sie wissenschaftlich zu untersuchen. Während die bisherige Forschung den Komplex der Zeit bei Brodskij in erster Linie auf motivischer oder philosophischer Ebene analysierte, argumentiert die vorliegende Arbeit, dass man die Omnipräsenz des Hauptthemas Zeit bei Brodskij – die in der Forschung bisher tendenziell nur als Tatsache registriert wird – erst eruieren kann, wenn man möglichst viele, auch die in diesem Kontext weniger beachteten Elemente der Temporalität quer durch verschiedene Textebenen mit in die Analyse nimmt und zeigt, welche u.a. werkstrategischen Funktionen die wie auch immer gearteten zeitlichen Elemente im Gesamtprojekt Brodskijs übernehmen. Es wurden von einigen Forscherinnen und Forschern Zeitkonzepte Brodskijs zwar ausgearbeitet, doch diesen fehlt oft eine ausführliche Erklärung, welche Rolle jene Konzepte in der Poetik Brodskijs spielen. Eine Bestimmung dieser Rolle soll die vorliegende Arbeit liefern. In gleicher Weise ist auch der mythopoetische Ansatz Brodskijs von der bisherigen Forschung zu wenig erforscht worden: Hier hat sich insofern eine Forschungslücke offenbart. Diese Forschungslücke forderte eine Untersuchung, die Aussagen über viele Mechanismen der zeitlichen Mythosbildung treffen kann: Wie und aus welchen werkstrategischen Überlegungen wendet Brodskij hierarchische Konstrukte in Bezug auf Zeitepochen an und wertet diese auf oder ab? Welche Funktionen führt bei ihm die semantische „Doppelbesetzung“ einiger Zeitfiguren aus? Aus welchen Gründen projiziert er welche Zeitmodelle auf welche Texte? Wie löst er das Problem der zahlreichen Widersprüche seiner Aussagen in Bezug auf Zeit, und wie setzt sich die mythopoetische Gesamtkonstruktion der Zeit bei Brodskij zusammen? Mein Forschungsinteresse galt weniger den für Brodskij typischen und bereits gut erforschten Symbolbildern der Zeit (Wasser, Ozean oder Staub), sondern vielmehr anderen Figuren. Gemeinsam sind den ausgewählten Elementen aus unterschiedlichen Textebenen die oft konstruiert zur Schau gestellten Bezüge zur Zeit. Ein wesentliches Attribut der von Brodskij erstellten Zeitkonstruktionen ist es, dass diese teils durch flankierende Aussagen in Interviews oder Essays weiter konturiert werden. Brodskij schrieb der Zeit immer neue, mitunter fantastische Eigenschaften zu, mit dem Ergebnis, dass von einer kohärenten Konzeption der Zeit bei Brodskij praktisch nicht gesprochen werden kann – zu widersprüchlich sind die verschiedenen Aussagen in Gedichten, Essays und Interviews. Er vermeidet es gezielt, den zeitlichen Begriffsumfang und Kontext kenntlich zu machen: So ist die Zeit in seinen metapoetischen Ausführungen beispielsweise mal ein physisches Phänomen, um nur ein paar Zeilen weiter als Synonym für das Versmaß benutzt zu werden. In dieser Arbeit wird die These verteidigt, dass es, strukturell gesehen, kein Zeitmodell bzw. keine einheitliche Zeitvorstellung bei Brodskij gibt. Zeit bei Brodskij ist weniger ein philosophischer Begriff, sondern vielmehr eine komplexe, aus sich oft einander widersprechenden Elementen zusammengestellte, zum Teil hierarchisch aufgebaute, mythopoetische Konstruktion. Um die Vielfalt an poetischen Strategien Brodskijs samt ihren ideologischen Implikationen bezüglich des Themas Zeit erfassen zu können, schlägt die vorliegende Arbeit vor, die zahlreichen Zeit-Bezüge und Bilder mit den Begriffen Mythologem und Ideologem zu erfassen. „Mythologem“ wird hier als ein Mittel der Poetik verstanden, dem in der Regel eine Metapher zugrunde liegt: Das erstere vermittelt der letzteren eine zusätzliche semantische Bedeutung. Das Mythologem hat zum Zweck, eine dem Autor dienliche Vorstellung zu formen. In der vorliegenden Untersuchung wird zwar meist von der Zeit gesprochen, aber oft auch von Temporalität. Темпоральность („Temporalität“) wird als Oberbegriff benutzt, um die mit der Zeit verbundenen Attribute der Phänomene zu beschreiben: Wichtig für den hier ausgearbeiteten Forschungsansatz ist nicht die Zeitlichkeit der Dinge, sondern vielmehr der Zeit-Bezug in den vielen sich ändernden Zeitkonzepten Brodskijs. Ich argumentiere, dass die Temporalität den Dichter – entgegen seinen eigenen Aussagen – nicht primär in ihrer philosophischen oder gar physikalischen Form interessiert. Im Fokus der vorliegenden Arbeit steht weder die physische noch die philosophische Natur der Temporalität; es geht vielmehr darum, wie Brodskij in seiner Poetik und Metapoetik verschiedene Zeitmodelle und zeitbezogene Phänomene interpretiert und nach Bedarf für seine literarischen Zwecke oder seine „außerliterarischen“ Gesten nutzt. Um die Herangehensweise an einigen Beispielen zu verdeutlichen: Stilmittel, die in diesem Kontext noch nicht analysiert worden sind, sind Zitate und Pseudozitate antiker Philosophen. So bezog sich Brodskij in seinen Gedichten und Prosawerken insgesamt rund zwanzigmal auf den Aphorismus „Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen“, der als Kennzeichnung der Lehre des griechischen Philosophen Heraklit gilt. In der vorliegenden Analyse wird die Hypothese entwickelt, dass der Aphorismus in der Verwendung durch Brodskij mehrere Zwecke hat: Er dient nicht nur als Gegenstand eines (taktischen) Sprachspiels, sondern auch als ein (unterschätztes) Element in programmatischen Texten und „außerliterarischen“ Gesten des Dichters. An der Oberfläche spielt der Satz eine konventionelle Rolle – die eines sprachlichen Hinweises auf die lineare Zeitvorstellung. Auch versucht Brodskij nicht, das semantische Umfeld des Heraklit-Aphorismus’ neu zu gestalten. Mehr Einsicht in die Funktionsweise dieses Zitats gewinnt man nur, wenn man es als rhetorische Interpretationsstütze und als ein Bindeglied zwischen dem Werk- und dem „Lebens“-Text des Dichters betrachtet. Denn das Heraklit-Zitat hatte eine durchaus wichtige Rolle: Es diente dem Dichter, wie anhand von Textanalysen und Aussagen Brodskijs gezeigt wird, als ein passendes Argument für oder gegen manche literaturbiografisch signifikante Entscheidung, zum Beispiel für den Entschluss, nicht in die UdSSR bzw. nach Russland zurückzukehren. Auch die Analyse der Figur der „ewigen Stadt“, urbs aeterna, welche Brodskij u.a. in „Развивая Платона“ ausgearbeitet hat, erlaubt einen tieferen Einblick in die Struktur der Brodskijschen Zeit-Konstruktion. Der Dichter beschrieb hier einen wiederkehrenden „imperialen“ Zustand des Universums, in dem die lineare Zeitrechnung relativiert und für einen Dichter eine zwar marginale, aber unabdingbare Rolle vorgesehen wird. Auch in der literarischen Selbstparodie und Dekonstruktion der urbs aeterna, „Театральное“, behält der Dichter diese Rolle. Für die Geschichtskonzeption Brodskijs ist das Prinzip der Selektion entscheidend. Brodskij wählt sorgfältig Formen historischer Zeiten aus: Die Geschichte ist ohne ein Konzept des Imperiums irrelevant, wobei die zentrale Position die urbs aeterna, das alte Rom, einnimmt. Es konnte gezeigt werden, dass das Imperium Romanum bei Brodskij nicht nur als objektive historische Realität, sondern auch als Gemütszustand, als état d’esprit, konzipiert wird. Die „imperiale“ Zeit endet nicht und dauert so lange wie die Zivilisation selbst. Ein Imperium wird als das Urbild eines Staates betrachtet, das sich immer wieder verwirklicht. Als einen integralen Teil des Zeitmythos analysiere ich einen Komplex von eschatologischen Bildern und Motiven Brodskijs – gerade hier zeigt sich insbesondere, wie die Auf- und Abwertungsmechanismen unterschiedlicher Zeitabschnitte und -epochen bei ihm funktionieren. Ein Beispiel hierfür ist die Gegenüberstellung der Mythologeme der „leeren“ Zukunft und der „vollen“ Vergangenheit. In dieser Zeit- und Wertrechnung ist der Dichter nicht marginal, wie in „Развивая Платона“, sondern eine Schlüsselinstanz, wenn auch die letzte, die mit Hilfe von Worten Werte markiert, bevor diese wiederum durch die Zukunft entwertet werden. Hier wird die lineare Zeitrechnung mit einem axiologischen Prozess der Entwertung gleichgesetzt. Parallel projiziert der lebende Dichter sich selbst in die zeitliche Perspektive als werdenden Marmor – ein Bild, das einen festen Platz in der eschatologischen Metaphorik Brodskijs hat. Die Arbeit kommt diesbezüglich zu folgenden Erkenntnissen. Die Zeit ist bei Brodskij ohne Wertung undenkbar; insofern wäre es genauer, von einer Axiologie der Zeit in seinem Werk zu sprechen. Die Zeit wird nach einem hierarchischen Prinzip aufgeteilt. Die Zukunft ist immer weniger bedeutend als die Vergangenheit, als deren Sachwalter sich der Dichter Brodskij sieht. Die Gegenwart ist dagegen kaum erwähnenswert; in Bezug auf sie kann man von einer Figur des Verschweigens sprechen. Eine wichtige Rolle spielen auch die metapoetischen Bilder Brodskijs: die „Reorganisation der Zeit“, das „schneller als die Zeit“ sich vollziehende Erwachsenenwerden durch das Schreiben oder die „Gleichsetzung“ eines Gedichts mit der Zeit. Das Versmaß nennt Brodskij eine „Zeitkapsel“ oder ein „Mittel zur Umstrukturierung der Zeit“: ein typisch Brodskijsches Mythologem, wonach ein Dichter imstande sein soll, durch seine Dichtung die Zeit zu rekonfigurieren. In der vorliegenden Arbeit wird gezeigt, dass die Bedeutung dieser metaphorischen Bilder bei Brodskij oft übersehen bzw. nicht konsequent analysiert wird. Diesen mythopoetischen Konstruktionen liegen hierarchische Strukturen zu Grunde, die in der Poetik Brodskijs nicht zu unterschätzen sind: Er konstruiert immer wieder einen imaginären „Konkurrenzkampf“ zwischen der Zeit und dem Raum, der Zeit und der Sprache (in ihrer Gestalt als rhythmisch strukturierte Lyrik). Hierzu bietet er unterschiedliche Konstellationen, die erst durch eine Dichterfigur komplett werden – entweder agiert der Dichter in der Rolle eines poeta vates, der sich der Zeit durch die möglichst „neutrale“ Tonart seiner Dichtung annähert und sich und seine Dichtung der Zeit „angleicht“, oder der Dichter nimmt die Rolle eines Ikonoklasten ein, der die Zeit „reorganisiert“ oder zumindest „fokussiert“. Auf Grundlage der vorliegenden Analyse wird argumentiert, dass der offensichtliche Widerspruch zwischen den beiden Mythologemen – dem der „Gleichsetzung“ mit der Zeit und dem der „Reorganisation“ der Zeit – erhalten bleibt, aus Sicht Brodskijs erhalten bleiben darf. Ein bloßer Verweis auf diese Widersprüchlichkeit trägt dem Brodskijschen Zeitmythos nicht genug Rechnung. Ihm geht es vielmehr darum, der Dichtung mehr symbolisches Kapital zu verleihen, indem er über einen „zeitlichen Wert“ eines Gedichts spricht oder das Versmaß als „eine Art spirituelle Größe“ bezeichnet. Zu vernachlässigen ist dabei, ob der Dichter eine „reorganisierende“ oder eine „gleichsetzende“ Kraft ist. Wesentlicher ist es, dass er über diese beiden Gestaltungsmöglichkeiten verfügt. Anschließend zeigt die Arbeit, wie Iosif Brodskij mit dem Kalender arbeitet: wie er dieses allgemeine Verzeichnis von Tagen, Monaten und Jahren als Stilmittel nutzt, Datierungen semantisch auflädt und personalisiert. Brodskijs Leben und Werk lassen sich mit den von ihm selbst ausgewählten Datierungen leicht skizzieren: die Verbannung 1964 in den russischen Norden nach dem Gerichtsprozess wird noch als minus-priem auf der Textebene ignoriert, dafür wird das Jahr 1972 (Zeitpunkt seiner Exilierung) umso deutlicher als Wasserscheide sowohl für ihn als Person als auch als Dichter stilisiert; nach dem Nobelpreis 1987 beginnt das „neue Leben“ („Новая жизнь“), welches aber vor dem neuen Millennium („Fin de siècle“) enden soll. Unter anderem wird analysiert, weshalb Brodskij nach 1987 seine eigenen Gedichte – aus der Perspektive, die durch den Kalender bestimmt wird – Revue passieren lässt, indem er durch eine Reihe von thematischen Neuauflagen, die sehr nah an den eigenen Originalen waren, eine Revision seiner älteren Texte, meistens aus den 1960-er Jahren, vornimmt. Der Arbeit ist es ein Anliegen, über die offensichtliche Faszination Brodskijs für das Thema Zeit hinaus seinen mythopoetischen Ansatz hinsichtlich der Zeit zu rekonstruieren. Eine logisch widerspruchsfreie Zeitdefinition sucht man bei Brodskij vergebens, was den künstlerischen Wert seiner zeitbezogenen Bilder natürlich nicht mindert. Insgesamt hat es sich gezeigt, dass Brodskij trotz Widersprüchlichkeit eine ziemlich genaue Aussage machte, indem er sich als einen Dichter sah, „der mit der Zeit zu tun hat“: sein Werk ist ohne seinen Zeitmythos nicht vorstellbar. Der Autor der vorliegenden Arbeit erhofft sich, dass die hier vorgenommene Rekonstruktion der Mythopoetik Brodskijs zu einem besseren Verständnis nicht nur für seine Faszination mit der Zeit, sondern auch für die allgemeine und weiterhin ungebrochene Faszination mit dem Werk des Dichters beitragen wird.
Faculty
Faculté des lettres et des sciences humaines
Language
  • Russian
Classification
Language, linguistics
Notes
  • Literaturverzeichnis: Seiten 182-202
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