Der Umgang mit dem Erbe : Positionen von Muslimen und Musliminnen in der Schweiz
German
Unsere Studie hat gezeigt, dass Imame sowie muslimische Einzelpersonen und Familien in der Schweiz einen sehr unterschiedlichen Umgang mit der islamischen Erbrechtslehre pflegen. Die Mehrheit der von uns befragten Imame vertritt einen traditionellen und in der muslimischen Welt weit verbreiteten Zugang zur Frage, ob das islamische Erbrecht in der Schweiz umgesetzt werden muss oder nicht: Für sie ist klar, dass die Erbrechtslehre von Gott gegeben ist und ihre Grundprinzipien, wie beispielsweise die im Koran geforderte Bevorteilung des Sohnes gegenüber der Tochter, auch heute in der Schweiz nicht einfach als ungültig deklariert werden können. Für diese Imame steht jedoch zugleich das Schweizer Gesetz über dem islamischen: Sollte es zu einem Konflikt kommen, so muss der Muslim bzw. die Muslimin, seine Ansprüche, die islamischen Prinzipien umzusetzen, fallen lassen. Weil die Aufteilung der Erbanteile im Koran selbst festgelegt ist, unterscheiden sich die inhaltlichen Auslegungen dieser Imame nur in Details, beispielsweise nach der im Herkunftsland oder am Ausbildungsort vorherrschenden Rechtschule. Diejenigen Imame, die eine Anpassung der islamischen Erbrechtslehre an den aktuellen Lebenskontext fordern oder sie gar für nicht mehr zeitgemäss halten, leiten ihre Aussagen aus einer ganz anderen Haltung zur koranischen Schrift ab: Auch für sie ist letztere göttliches Wort, das jedoch in einen ganz bestimmten historischen Kontext hinein gegeben wurde. Die Bedingungen, unter denen die Koranverse offenbart wurden, sind heute ganz andere, weswegen die klassische Erbschaftslehre überdacht, oder – nach Meinung einer kleinen Minderheit – sogar zugunsten des Schweizer Gesetzes aufgegeben werden sollte. Die Imame sprachen jedoch von ihrer generellen Einstellung zum Thema und weniger über konkrete Einzelfälle. Die Analyse der Gespräche mit Einzelpersonen hat gezeigt, von wie vielen unterschiedlichen Faktoren der Umgang mit dem Erbe in diesen konkreten Fällen geprägt sein kann. Zunächst stammen die in der Schweiz lebenden Muslime und Musliminnen oder ihre Vorfahren aus vielen unterschiedlichen Ländern. Viele sind mit säkularen Gesetzgebungen, jedoch auch mit lokalen und regionalen Traditionen aufgewachsen, die die Frauen oft finanziell viel schlechter stellen, als es eine islamisch-religiöse Auslegung erlauben würde. Andere kommen aus Ländern, in denen die Gesetzgebung die Grundprinzipien der islamischen Erbrechtslehre übernommen hat. Weil die Erbmasse 8. Fazit oftmals im Heimatland verwaltet wird, sind in der Schweiz lebende Muslime und Musliminnen dann teils gegen ihren Willen mit islamischen Rechtspositionen konfrontiert. In der Praxis finden sie oft Wege, das Gesetz im Heimatland zu umgehen und Söhne und Töchter finanziell gleich zu stellen: beispielsweise durch Schenkungen, Testamente oder Haus- und Wohnungsverkäufe zu symbolischen Preisen. Eine Minderheit der von uns befragten Frauen hält eine geschlechterabhängige Erbverteilung im Verhältnis 2:1 jedoch für gerecht und strebt an, diese in der Schweiz umzusetzen. Wie die Imame sehen sie zwar innerfamiliäres, aber kein grundsätzliches Konfliktpotential: Sie betonen, dass die Mitglieder einer muslimischen Familie sich entweder einig sind, legale Lösungen der Erbverteilung nach islamischer Lehre zu finden; oder aber sich in dieser Frage nicht einig sind, was dann automatisch die Anwendung des Schweizer Rechts zur Folge habe. Das Verhältnis derjenigen, die an klassischen islamischen Rechtspositionen festhalten möchten, ist im Vergleich mit den Imamen jedoch genau umgekehrt: Die Mehrheit der von uns befragten Einzelpersonen hält das islamische Erbrecht für nicht mehr zeitgemäss – sie betrachten die Anwendung des Schweizer Erbgesetzes als eine Selbstverständlichkeit, die sie nicht hinterfragen. Hinterfragen sie sie, so kommen sie nicht selten zu dem Schluss, dass die hiesige Gesetzgebung im Sinne des Islam ist. Das Thema des islamischen Erbrechts in der Schweiz ist von geringer Brisanz und Problematik. Dies liegt zum einen an den – noch – geringen Vermögen und Besitztümern von Muslimen und Musliminnen auf Schweizer Boden. Weil ein Grossteil des oftmals nicht sehr hohen Erbes in den jeweiligen Herkunftsländern abgewickelt wird, sind Imame in der Schweiz bisher kaum mit Anfragen konfrontiert. Ob sich dies unter künftigen Generationen ändern wird, wird sich zeigen. Unter den von uns befragten Personen gab eine Minderheit an, dass sie persönlich einen Imam zur Beratung konsultieren würde. Die anderen aber erklärten – aus unterschiedlichen Gründen – dass sie in einem konkreten Erbrechtsfall das Schweizer Gesetz annehmen und nicht nach einer spezifisch islamischen Auslegung suchen würde: weil das Erbrecht für sie gar nicht religiös konnotiert ist, weil sie die Priorität und Umsetzung des Landesrechts in einem säkularen Staat als gegeben hinnehmen oder sogar, weil sie das Schweizer Recht für die zeitgemässere und auch im Sinne des Islam vorzuziehende Lösung halten.
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